Wenn der Laut einer Stimme über Leben und Tod entscheidet
Band 3 der Auris-Bestseller: Seit Jahren versucht die erfolgreiche True-Crime-Podcasterin Jula Ansorge die Wahrheit über ihren verschwundenen Bruder herauszufinden. Moritz wurde eines abscheulichen Verbrechens beschuldigt und später von den Behörden für tot erklärt. Matthias Hegel, der berühmte forensische Phonetiker, behauptet Beweise zu haben, dass Moritz noch lebt. Doch der zwielichtige Experte, der nur eine Stimmprobe braucht, um die Psyche eines Täters zu analysieren, hat Jula schon oft belogen und manipuliert. Als sie sich ein letztes Mal mit ihm treffen will, kommt es zur Katastrophe: Jula und Hegel werden brutal entführt. Anscheinend gibt es noch jemanden, der Moritz aufspüren will. Jula und Hegel, das ungleiche und verfeindete Ermittlerpaar, stecken in einem mörderischen Dilemma ...
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Der Mann schien sie vom Unterleib aufwärts in zwei Teile reißen zu wollen, und gleichzeitig versetzte der Schmerz sie an einen anderen Ort. Jula war nicht länger in Buenos Aires auf dem Friedhof La Recoleta, betrachtete nicht länger die eindrucksvollen Grabstätten argentinischer Prominenter in der warmen Sommernacht, kurz nachdem sich ihr Bruder Moritz von ihr verabschiedet hatte, weil er früher zurück ins Hotel wollte. Hätte ich ihn doch nur begleitet … Jetzt trieb Jula in einem Meer aus Schmerzen auf einen dunklen Abgrund zu. Der Mann, der ihr Gesicht in die Erde drückte, während er sie brutal vergewaltigte, roch nach Schweiß und Urin, und er war doppelt so schwer wie sie. Mindestens!
»Frau Ansorge?«
Jula schlug die Augen auf und sah Antonio Verón in die Augen. Der Mitarbeiter der deutschen Botschaft hatte sie hier auf dem Polizeirevier im Zentrum von Buenos Aires nun schon seit einer gefühlten Ewigkeit zu dem Überfall befragt, doch nun sagte er etwas, das Jula wünschen ließ, sie wäre auf diesem Friedhof einfach gestorben.
»Wir wissen, wer Sie vergewaltigt hat. Wir haben den Täter, er hat alles gestanden.«
»Wer?«
In diesem Augenblick hatte Jula wirklich die Hoffnung, man habe den Täter gefunden und würde ihn seiner gerechten Strafe zuführen. Falls es für das, was er ihr angetan hatte, überhaupt eine gerechte Strafe gab. Doch stattdessen sagte dieser Antonio nur: »Es war Ihr Bruder! Er hat alles gestanden und sich vor einer Stunde in seiner Zelle erhängt.«
Jula schüttelte den Kopf. »Nein, nein, nein … das ist unmöglich!«
»Jula?« Die Stimme war ihr vertraut.
Sie schüttelte weiterhin den Kopf und reagierte nicht auf ihren Namen, obwohl die Rufe immer lauter wurden. Und obwohl sich die Stimme des Rufers verändert hat.
»Jula! Jula, hey!«
Nein, es war nicht die Stimme von Antonio Verón, sondern die von …
»Paul?«
Jula schlug die Augen auf, diesmal richtig, nicht nur im Traum, und sah direkt in das sorgenvolle Gesicht ihres Ex-Freunds. Verdammt, bin ich schon wieder weggetreten?
»Geht es dir nicht gut? Ich war doch nur kurz auf der Toilette.« Paul setzte sich wieder zu Jula an den Tisch. Ihre Blicke flogen unwillkürlich über seine neue, akkurate Frisur und sein fast schon elegantes Outfit. Der einst wildlockige, bunt und unkonventionell gekleidete Paul hatte sich in den letzten Wochen verändert, nicht nur äußerlich. Um mir zu gefallen, um mich zurückzugewinnen. Aber dafür habe ich gerade wirklich keinen Nerv.
»Sorry.« Sie nickte hastig und fuhr sich verlegen mit der Hand durch die Haare. »Ich habe gestern wohl einfach zu lange gearbeitet. Das war ein kleiner Tagtraum.«
Albtraum trifft es wohl eher.
Jula wusste nicht, warum sie ausgerechnet in letzter Zeit so wenig Schlaf fand und wenn, dann zu den unmöglichsten Uhrzeiten und Gelegenheiten. So wie jetzt, bei diesem Mittagessen mit ihrem Verflossenen. Dass die kurzen Schlafintervalle mit Flashbacks gefüllt waren, die von dem handelten, was ihr damals in Argentinien widerfahren war und was sie nun schon seit Jahren traumatisierte, war hingegen gar nicht so selten. Vermutlich hingen sowohl ihre Schlafstörungen wie auch ihre Albträume damit zusammen, dass Jula heute einen der schlimmsten Tage ihres Lebens erwartete.
»Sie werden diesen Dreckskerl Hegel freisprechen!« Jula gähnte und starrte auf die Scheibe des frischen Baguettes auf ihrem Vorspeisenteller, die sie, kurz bevor Paul auf der Toilette verschwunden war, mit Butter bestrichen hatte.
»Jetzt warte es doch erst mal ab.« Paul griff nach ihrer Hand, doch Jula zog sie weg.
Ein weiteres Mal fuhr sie sich durch die Haare und schloss die Augen. So als könne sie dem Mittagessen mit ihrem Ex-Freund dadurch für einen kurzen Moment entfliehen. Verdammt, das ist mir heute echt alles zu viel. Er meint es ja gut, aber ich bin wirklich nicht in Stimmung für Friede, Freude, Eierkuchen. Natürlich war es eine nette Geste von Paul gewesen, Jula vor der Urteilsverkündung im Landgericht Berlin noch in das kleine Restaurant in der Nähe des Berliner Funkturms einzuladen. In das Lokal, in dem die beiden damals bei ihrem ersten echten Date gegessen hatten. Damals hatte allerdings ringsherum reges Treiben geherrscht, während es jetzt, um die Mittagszeit, noch vollkommen leer war. Einzig Jula und Paul waren anwesend und bereiteten dem netten, aber etwas zu servilen Kellner eine zwar wenig einträgliche, dafür aber umso entspanntere Schicht. Früher hatte das Restaurant mit den authentisch italienischen Spezialitäten erst ab dem frühen Abend geöffnet. Es schien sich unter den Gästen noch nicht herumgesprochen zu haben, dass es nun bereits mittags seine Türen aufschloss. Wie auch immer, Jula hatte andere Sorgen, als sich über die unternehmerischen Entscheidungen des Gastwirts Gedanken zu machen.
»Da gibt es nichts abzuwarten. Hegel ist einer der klügsten Köpfe Deutschlands. Er hat seine Fähigkeiten genutzt, um das perfekte Verbrechen zu begehen.«
»Indem er wie ein Wahnsinniger auf seine Frau eingestochen hat?«
»Indem er ein für seine Intelligenz so stümperhaftes Verbrechen begangen hat, dass so eine blöde True-Crime-Podcasterin wie ich ihm auf den Leim gegangen ist. Ich, Jula Ansorge, getrieben von dem Ziel, meinen Bruder von dem Vorwurf der Vergewaltigung seiner eigenen Schwester reinzuwaschen, habe allen Ernstes versucht, einen Justizirrtum an Matthias Hegel nachzuweisen.«
»Bist du dir denn wirklich sicher, dass er schuldig ist?« Paul legte die Stirn in Falten.
»Allerdings, und das habe ich ihm auch auf den Kopf zugesagt. Matthias Hegel, Deutschlands begnadetster akustischer Profiler, ist ein Mörder! Er hat seine Frau umgebracht, weil sie mit der Information an die Öffentlichkeit gehen wollte, dass Hegel ihre angeblich leibliche Tochter Mathilda von einem Kinderhändlerring namens Remus gekauft hat. Aber alle Welt glaubt jetzt, Hegel wäre selbst ein Opfer von Remus. Und ich blöde Kuh habe für diese Lüge auch noch die Beweise gesammelt, die Hegel für mich platziert hatte. Verstehst du die Ironie des Schicksals? Ich, die Frau, die Justizirrtümer verhindern wollte, habe selbst für einen gesorgt!«
Jula spürte, wie ihre Wangen rot wurden. Vor Wut, aber auch vor Scham.
»Jula?«
Paul sah schon wieder auf seine Uhr, bestimmt zum zwanzigsten Mal, seit sie das Lokal betreten hatten. Ich glaube fast, er ist wegen der Urteilsverkündung nervöser als ich.
»Können wir einen Moment mal über etwas anderes als Hegel reden?« Er griff erneut nach Julas Hand, und nun ließ sie ihn gewähren. Etwas in seiner Körperhaltung veränderte sich, und auch seine Stimme klang weicher, als er fortfuhr: »Es gibt da noch einen anderen Grund, weswegen ich dich hierher eingeladen habe. Ich möchte dir etwas sagen.«
Jula musterte ihren Ex-Freund mit Skepsis. Was kommt denn jetzt bitte? Fängt er schon wieder damit an, dass er mich zurückhaben will? Ja, er hat an sich gearbeitet, und so wirklich sauer bin ich eigentlich auch nicht mehr darüber, dass er damals mein Handy ausspioniert hat. Und ja, er gibt mir noch immer Halt, ist jederzeit für mich da, erträgt meine Launen, bleibt beständig und hat sogar an seinem Aussehen gearbeitet. Aber bitte, Paul, komm mir jetzt nicht mit Liebesavancen. Blöder Zeitpunkt, ich habe gerade echt keinen Nerv dafür!
»Paul, das ist jetzt wirklich … «
Weiter kam sie nicht, denn ihr Ex-Freund fiel Jula ins Wort: »Ich habe ein Angebot vom Sender bekommen. 101. 5 expandiert, sie haben neue Frequenzen erworben.«
Jula horchte auf. Auch sie hatte eine Zeit lang als moderierende Redakteurin für den Berliner Radiosender gearbeitet. Dort hatten sie einander kennengelernt. Doch während Paul als Chef der Nachrichtenabteilung im Sender Karriere gemacht hatte, war Jula von ihrer Chefin allen Ernstes dazu aufgefordert worden, einen nächtlichen Sextalk zu moderieren. Sie haben die schönste Stimme im ganzen Sender, ich finde das Format auch nicht toll, aber es wird Quote bringen. Genau! Was konnte man einer Frau wie Jula schon für ein besseres Angebot unterbreiten, als nachts mit notgeilen Typen über deren Sexfantasien zu plaudern? Einer Frau, die vergewaltigt worden war. So brutal, dass sie noch immer unter chronischen Rückenschmerzen litt und bereits in einen Kampfmodus verfiel, wenn sie es nur im Dunkeln knirschen hörte. Ihren bisherigen Programmplatz werde ich Rudy Constantin geben, er ist nun mal der beliebteste Sprecher des Senders. Sex oder Selters! Jula schüttelte sich.
»Ist was?« Paul sah Jula sorgenvoll an.
»Schon okay, ich hatte nur schon wieder so einen kleinen Flashback. Also, was für ein Angebot hat dir der Sender denn gemacht?«
Pauls Miene erhellte sich schlagartig. »Die wollen mich zum Chefredakteur ihrer neuen Außenstelle in Bayern machen! Ich könnte mir da ein eigenes Team aufbauen, Formate entwickeln, und natürlich würde ich auch viel mehr verdienen als bisher!« Paul strahlte, doch Jula sah den Zweifel, der sich seinem Lächeln beigemischt hatte.
»Du bist unsicher, ob du das machen sollst?«
»Na ja, es wäre schon echt weit weg von Berlin. Und damit eben auch von dir. Und ich hätte kaum Zeit, zu Besuch herzukommen, gerade im ersten Jahr nicht. Da werde ich vermutlich dauernd im Sender sein müssen.«
»Und was willst du mir jetzt damit sagen?« Im Grunde hätte sich Jula die Antwort auf ihre Frage ebenso gut auch selbst geben können.
»Ach, Jula, du hast doch sowieso die Schnauze voll von Berlin, das sagst du immer wieder. Der Lärm, die Hektik, die Unpersönlichkeit. Alle sind gereizt, Stau, keine Parkplätze, unbezahlbare Mieten, schlechte Luft, Kriminalität.«
Jula lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und musterte Paul, als sei er ein Lausebengel, der ihr einen Streich spielen wollte. »Das meinst du doch jetzt nicht ernst? Du willst, dass ich mit dir nach Bayern gehe? Was soll ich denn da machen? Mein Jodeldiplom? Damit ich was in der Hand habe, falls mal was ist?«
»Jetzt warte doch erst mal ab!« Paul hob wie zur Beschwichtigung die Hände. »Es wäre ja nicht nur wegen uns beiden privat. Du wolltest doch deinen True-Crime-Podcast schon immer übers Radio machen, mit eigener Sendung. Und wenn ich Chefredakteur bin, kann ich dich in mein Team holen!«
»Paul, das ist ja lieb gemeint. Aber das war, bevor der Fall Hegel meinem Podcast über zwei Millionen Follower eingebracht hat! So viele Leute werden mir im Senderadius von 101. 5 Kuhdorf wohl kaum zuhören!«
»Also, es gibt da auch noch einen anderen Grund, aus dem ich dich gern nach Bayern mitnehmen würde.« Paul setzte dieses Lächeln auf, mit dem er Jula schon während ihrer Beziehung immer um den Finger gewickelt hatte. »Es geht nämlich auch darum, dass ich … «
»Was macht ihr denn hier?« Der grelle Ruf schallte lautstark von der Eingangstür her.
Sowohl Jula als auch Paul wandten sich um.
»Das gibt’s ja nicht! Was für ein Zufall!«
Jula traute ihren Augen nicht. Wie groß war wohl die Wahrscheinlichkeit gewesen, dass ausgerechnet jetzt, um diese mittägliche Uhrzeit, Rudy Constantin und seine Dauerverlobte Cassy hier in dieses kleine Restaurant am Funkturm kommen würden? Rudy, der Starmoderator von 101. 5, der üblicherweise nicht vor dem Mittagsläuten wach war.
»Hatte ich euch erzählt, dass ich heute mit Jula herkommen will?« Paul schien ebenso verblüfft.
Rudy lachte auf und breitete die Arme aus, als wolle er die ganze Welt damit umarmen. »Als würden wir euer Techtelmechtel sprengen wollen! Du hast nur erzählt, dass die hier jetzt schon früher aufmachen, und da dachten wir uns, probieren wir den Mittagstisch doch mal aus.« Rudy grinste mindestens so breit wie während seiner Sendungen, wenn er wieder mal mit Hohn und Spott über alles herzog, was die tagesaktuelle Presse so an skurrilen Neuigkeiten zu bieten hatte.
»Das hier ist kein Techtelmechtel.« Jula richtete sich auf. »Was ist das überhaupt für ein bescheuertes Wort?«
»Schon gut, wir haben nichts gesehen!« Rudy hielt sich demonstrativ die Hände vor die Augen. »Wir setzen uns ganz nach hinten in die Ecke!«
Cassy fasste Rudy am Handgelenk und sah Jula mit verständnisvollem Blick an. »Entschuldigt, dass wir hier so reinplatzen. Wir lassen euch beide jetzt mal lieber in Ruhe, ihr seid ja sicher hier, weil ihr was besprechen wollt.«
Damit zog Cassy ihren Freund zu einem Tisch weiter hinten im Lokal. Jula sah den beiden kopfschüttelnd nach. Wie abstrus kann dieser Tag eigentlich noch werden?, fragte sie sich. Sie konnte nicht ahnen, dass sie schon wenige Sekunden später eine Antwort auf ihre Frage erhalten sollte – als nämlich die Tür aufsprang, ein maskierter Mann in das Restaurant stürmte, eine Waffe zog und schrie:
»Ein Mucks, und ich knalle euch alle ab!«