Im Gespräch mit Jo Leevers über ihren Roman Café Leben
Was hat Dich zu dem Roman Café Leben inspiriert?
Vor einigen Jahren erkrankte meine Mutter an Krebs und musste ins Krankenhaus. Bei meinen Besuchen verbrachten wir viel Zeit im Krankenhauscafé, wo wir Tasse um Tasse schlechten Kaffee trunken und viel zu viel von dem übersüßten Kuchen aßen. Mir wurde bewusst, dass die Menschen um uns herum ähnlich schwierige Erfahrungen machten, je nachdem, welche Nachricht ihnen überbracht worden war. Sie fühlten vielleicht Trauer oder Angst; Erleichterung oder Hoffnung. Leider blieben meiner Mutter nur vier kurze Wochen zwischen der Diagnose und dem Tag, an dem sie verstarb. Davor war ich immer davon ausgegangen, dass wir uns irgendwann zusammen hinsetzen würden und sie mir ihre Geschichten erzählen würde – von den Dingen, die sie schon mal nebenbei erwähnt hatte und davon, was ich nun niemals mehr hören werde. Und so entstand die Ursprungsidee von Café Leben - Menschen die Möglichkeit zu geben, ihre Geschichten mit ihren eigenen Worten zu erzählen; um selbst Frieden zu finden und um den Liebsten ein Geschenk zu hinterlassen. Ich war fasziniert von der Idee, wie wir der Welt eine bestimmte Version von uns selbst präsentieren und wie wir gewisse Dinge verstecken. Dies führte mich zu der Frage, was wohl passieren würde, wenn jemand seine Lebensgeschichte erzählt und eine unaufgeklärte Straftat ans Tageslicht kommt ...
Annie und Henrietta sind sehr unterschiedlich – war eine der Frauen einfacher zu beschreiben?
Ich denke, dass mir Annie anfangs leichter fiel. Das lag teilweise daran, dass Henrietta ihr wahres Ich mit großer Sorgfalt vor der Welt versteckt und teilweise daran, dass Annie einige skurrile Eigenschaften meiner Mutter teilt. Wie Annie liebte es meine Mutter, mit ihrer Kleidung zu beeindrucken. Aber im Gegensatz zu Annie konnte meine Mutter ihre Liebe für Mode ausleben, und sie hatte einen liebevollen Ehemann und Familie. Mir war bewusst, dass viele Frauen aus der Generation meiner Mutter, die die Frauenbewegung der 1970er erlebt hatten, sich selbst in keinem Maße befreit fühlten. Sie verfügten nicht über die nötige Bildung oder Herkunft, um die Welle der politischen Veränderung mitzureiten, und ich kann mir gut vorstellen, dass das Gefühl, dass das Leben an einem vorbeizieht, frustrierend gewesen sein muss. Im Laufe der Geschichte und mit jedem Schritt, den Henrietta in die Welt hinaus wagte, spürte ich, dass sie mir mehr ans Herz wuchs. Es fühlte sich so an, als seien wir beide auf einer Reise, an deren Ende die Entdeckung von Henriettas wahren Persönlichkeit stand.
Wieviel steckt von Dir selbst in Deinen Figuren?
Ha ha, jeder, der mich kennt, weiß, dass ich eine schlecht erzogene Hündin namens Lottie habe, die Henriettas Hund Dave sehr ähnlich ist. Henriettas Spaziergänge in einsamen Straßen mit ihrem hitzigen Hund sind mir also sehr bekannt. Ich würde sagen, dass jedem der Hauptcharaktere ein kleiner Kern von mir innewohnt, der sozusagen der Startpunkt für die Figurenentwicklung war. Irgendwann haben die beiden Frauenfiguren natürlich begonnen, ein eigenständiges Leben zu führen. Wenn man einen Roman schreibt, wird man auf unvergleichliche Weise daran erinnert, wie unser Gehirn Informationen und Vorkommnisse aufnimmt; nicht nur selbst Erlebtes, sondern auch das von anderen. Diese Erinnerungen sind irgendwo verschlossen, und wenn du beginnst zu schreiben, drängen sie an die Oberfläche. Dieser Prozess ist hochspannend.
Café Leben ist Dein Debütroman. Hast Du schon immer davon geträumt, einen Roman zu schreiben und zu veröffentlichen?
Um ehrlich zu sein, war das ein lebenslanger Wunsch, den ich aber erst in meinen Fünfzigern gewagt habe anzugehen. Verrückt, ich weiß. Meine Mutter hat immer allen erzählt, dass ich bereits mit vier Jahren lesen konnte (der mütterliche Stolz hat da sicherlich ein wenig übertrieben). Aber ich war schon immer eine unersättliche Leserin. Ich habe an der Universität Englisch studiert, bevor ich für diverse Magazine angefangen habe zu schreiben. Damals war es für mich angenehmer, Texte von anderen zu überarbeiten, als selbst zu schreiben. Als meine Mutter starb, war es wie ein Weckruf – Ich realisierte, dass das Leben kurz ist und ich nie wissen würde, ob ich einen Roman schreiben kann, wenn ich es nicht jetzt versuchte. Also begann ich zu schreiben, umzuschreiben, zu überarbeiten … Und dann wieder umzuschreiben. Ich setzte mir selbst eine Deadline, indem ich an dem britischen Schreibwettbewerb The Bath Novel Award teilnahm. Ich hatte das große Glück, es auf die Longlist zu schaffen. Dieser Vertrauensbeweis spornte mich an, ich beendete die erste Version und fand einen Agenten, der mir half, aus dieser ersten Version den Roman zu machen, der er heute ist. Als ich erfuhr, dass Droemer Knaur den Roman in Deutschland verlegen möchte, war ich überglücklich, denn ich habe eine Tante in Deutschland und war bereits in Hamburg und Berlin. Ein kleiner Teil von mir wünscht sich, dass ich den Mut, einen Roman zu schreiben, schon früher gehabt hätte. Aber ich glaube auch, dass es sich noch besser anfühlt, wenn ein lang gehegter Traum später im Leben in Erfüllung geht.
Sterben gehört zum Leben dazu. Was meinst Du, sollten wir offener und häufiger darüber sprechen? Oder müssten wir besser aufs Sterben vorbereitet sein – sofern dies möglich ist? Hast Du eine Idee, warum wir uns so schwer tun, das Sterben besser ins Leben zu integrieren?
Das ist eine schwierige Frage. Ich dachte immer, dass ich ein offener Mensch bin, aber als ich erst meine Mutter und kurz darauf meine beste Freundin an den Krebs verlor, wurde mir klar, wie schlecht ich darauf vorbereitet war, einen Menschen in den Tod zu begleiten oder dabei zusehen zu müssen. Palliativpfleger machen einen unglaublichen Job und unterstützen Menschen am Ende ihres Lebens auf unermessliche Weise (ich muss hier nicht erwähnen, dass die Palliativpfleger selbstverständlich sensibler sind als Henrietta und ihre Chefin Audrey!). Aber wir treffen sie meistens am Ende des Weges – im Krankenhaus oder Hospiz. Für manche von uns wäre es vielleicht hilfreich, sich frühzeitig, wenn man noch gesund ist, damit auseinanderzusetzen, was einmal kommen wird. Wenn wir bspw. unseren Letzten Willen aufschreiben, gibt es die Möglichkeit, sich mit einem „Sterbeplan“ zu beschäftigen – das ist wie ein Geburtsplan, bei dem Schwangere im Vorfeld aufschreiben, was sie sich für die Geburt wünschen und was nicht. Es könnte den Tod enttabuisieren und die zahlreichen Entscheidungen, die die Hinterbliebenen treffen müssen, erleichtern. Aber ich bin sicher, dass dieses Vorgehen nicht für Jedermann ist und es sollte auch keinen Druck geben, das machen zu müssen. Wie das Sprichwort sagt, ist das einzig Sichere im Leben der Tod, aber in den westlichen Kulturen tun wir uns immer noch sehr schwer, darüber zu sprechen.
Gibt es einen besonderen Moment, einen Tag oder eine Begegnung, die Du in Deinem persönlichen Lebensbuch herausstellen würdest?
Ich denke, meines wäre eine Mischung aus den typischen Momenten, bei denen man vorher schon ahnt, dass sie besonders werden – meine Hochzeit oder die Geburt meiner beiden Kinder –, gepaart mit unerwarteten Momenten, zufälligen Begebenheiten, die vielleicht nicht wichtig erscheinen, aber für immer präsent bleiben. Da wäre zum Beispiel ein sonniger Sonntag, den meine Mutter mit mir und meinem Bruder, als wir klein waren, in einem Park verbrachte. Wir fanden einen Kirschbaum, der voller reifer, schwerer Früchte war. Und ohne groß nachzudenken, begann meine Mutter, die Früchte in einem weißen Baumwollsonnenhut einzusammeln, den sie gerade erst gekauft hatte. Ich liebe dieses Bild von dem weißen Hut, der für uns randvoll gefüllt ist mit überreifen, dunkelroten Früchten. Der Hut war natürlich ruiniert – die dunkelroten Flecken gingen nie mehr raus –, aber ich bin dankbar, dass sie diesen Moment des Genusses mit uns ausgekostet hat. Ich erinnere mich auch sehr gerne an die Urlaube mit meinem Mann und unseren Kindern, als sie noch klein waren. Jedes Jahr an Ostern fuhren wir an den selben Strand in Cornwall, die Tage waren lang und sonnig, und die Kinder surften, bauten Sandburgen oder lasen – je nachdem, wie alt sie waren. Wir fahren immer noch an diesen Strand, er ist eine besondere gemeinsame Erinnerung, die wir gerne wiederholen, feiern und weiter aufbauen.
In Deinem Roman geht es auch um verlorene Gelegenheiten. Wenn man einen geliebten Menschen verliert, kennen viele das Gefühl, nicht genug Zeit miteinander verbracht und nicht genug geredet zu haben. Der anstrengende Alltag hat uns so oft fest im Griff, dass es schwierig ist, den Blick für das Wesentliche nicht zu verlieren. Hast Du für Dich einen Weg gefunden, den Alltag bewusster zu leben?
Das ist so wahr; die Geschäftigkeit des Alltags macht es schwer, sich auf das wirklich Wichtige zu fokussieren, und das ist Zeit mit den Menschen zu verbringen, die wir lieben, und sicherzugehen, dass sie wissen, dass sie geliebt werden. Glaubst Du an ein Leben nach dem Tod? Ich wünschte, ich täte es, aber ich persönlich glaube, dass wir in den Erinnerungen von anderen Menschen weiterleben. Trotzdem denke ich auch, dass man Menschen an Orten, die sie mochten, erspüren kann. Ich meine das nicht auf eine unheimliche Weise, sondern eher, dass wir alle Spuren hinterlassen, die langsam verblassen, und dass dies beruhigend sein kann – so wie ein Kleidungsstück langsam den Geruch einer Person verliert.
Woran glaubst Du?
Ich glaube daran, dass man Menschen so behandeln sollte, wie man selbst behandelt werden möchte. Ich glaube an keinen Gott, aber ich glaube, dass es etwas wie Karma in der Welt gibt, eine natürliche Balance, und dass Du Gutes ernten wirst, wenn Du das tust, von dem Du tief in Deinem Herzen weißt, dass es gut ist. Klar, wenn man den Blick weitet, lässt sich nicht leugnen, dass die Welt in einem ziemlich schrecklichen Durcheinander ist und dass Schlimmes guten Menschen grundlos widerfährt. Aber der Versuch, wenn auch nur auf kleiner Ebene, Gerechtigkeit und Balance zu leben, kann nicht schlecht sein, denke ich.
Möchtest Du Deinen Lesern etwas mitteilen?
Ich möchte mich bedanken, dass Du Dir die Zeit genommen hast, um mein Buch zu lesen. Ich liebe es, mich auf Social-Media-Plattformen auszutauschen (vor allem, wenn ich eigentlich mein zweites Buch schreiben sollte!), also melde Dich gerne über @joleevers, wenn Du über Café Leben, eigene Erfahrungen oder einfach nur so plaudern willst. Ich verschicke auch Newsletter, für die Du Dich gerne auf joleevers.com anmelden kannst. Und falls Du wie Henrietta und Annie das Gefühl hast, eine zweite Chance im Leben zu brauchen, dann überlege, wie Du Dir Deine Zukunft wünscht, schreibe es auf und breche das Ganze runter auf kleine, machbare Schritte, mit denen Du Deinem Ziel näherkommst. Auch wenn es am Ende nicht genauso klappt, wie Du es Dir vorgestellt hast, kann ich nur sagen, dass es immer gut ist, die Veränderung zu umarmen. Es kann beängstigend sein, aber wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Ich wünsche Dir viel Glück, wenn Du den Mut zusammennimmst und das Leben um eine zweite, dritte oder sogar vierte Chance bittest!