Interview mit Özlem Topçu und Richard C. Schneider
Für wen haben Sie Ihr Buch geschrieben? Wer sollte es lesen?
Jeder und jede, die neugierig ist oder glaubt, dass »die anderen« so oder so ticken würden, sich in allem einig wären – oder total zerstritten. Wie so oft im Leben ist die Realität immer etwas komplizierter. Und interessanter!
Aber tatsächlich haben wir erst einmal für uns geschrieben. Der einjährige Briefwechsel ist authentisch, wir haben in dieser Zeit sehr bewusst nie über die Briefe gesprochen, etwa wenn wir mal telefoniert haben. Die Briefe hatten und haben ihr Eigenleben und unterlagen keinen Regieanweisungen.
Wie kamen Sie auf die Idee, sich gegenseitig Briefe über Ihre Leben zu schreiben?
Unser Eindruck war zuletzt, dass sich die Diskurse um Zugehörigkeiten und Identitäten verkrampft haben, dass regelrecht Lager entstanden sind. Dass man sich zu entscheiden hatte, wo man steht. Darüber wollten wir uns austauschen und zeigen: So blicken ein Nachkomme von Holocaust-Überlebenden und Immigranten und eine Nachkommin türkischer Einwanderer auf Debatten in Deutschland – Debatten, die oft über sie geführt werden.
Sie bezeichnen sich in Ihrem Buch als »Wanderer zwischen den Welten«. Wer sind diese – und was macht sie aus?
Das sind Menschen, die in sich mehrere Kulturen gleichzeitig tragen. Natürlich hat jeder Staat das Recht, seine Grenzen zu schützen. Aber für Leute wie für uns, deren Familien mehr als einmal von einem Land ins nächste gewandert sind, ob aus Zwang, Bedrohung oder Armut, mutet manchmal die Art, wie in Deutschland über Migration diskutiert wird, recht seltsam an.
Nicht überall auf der Welt wird so ein großer Tanz um das Thema aufgeführt wie hier. Man geht halt dahin, wo man eine Chance hat zu überleben oder ein gutes Leben zu führen. Oder: weil man schlicht in Deutschland hängengeblieben ist. Weil die Realität manchmal so ist, dass sie mit einem macht, was sie will.
Welche Reaktionen auf Ihr Buch erwarten Sie? Welche wünschen Sie sich?
Natürlich einen smashing Erfolg und Begeisterung ;-) Ok, und die seriöse Antwort lautet: Wie wohl alle Autorinnen und Autoren hoffen wir, Denkanstöße geben zu können, zu irritieren und zu stören. Nicht alles wird allen gefallen, und wir erfüllen sicher nicht jede Erwartung. Aber das war auch nicht unsere Absicht.
Warum haben die Nicht-Betroffenen von alltäglichem Antisemitismus und Rassismus so wenig Ahnung von dem, was sich direkt neben ihnen abspielt?
Weil sie eben nicht betroffen sind. Und weil sich viele mit dem Problem nicht auseinandersetzen oder es gar verdrängen. Ein anderes Problem ist, dass nicht einmal jene, die sich einen Judenstern auf die Brust kleben und damit auf eine Demo gehen, verstehen, dass das zutiefst antisemitisch ist. Oder jene sich natürlich nicht für Rassisten halten, auch wenn sie noch immer das N- oder am Z-Wort verteidigen
Hat Corona hier Probleme verstärkt, die vorher schon bestanden?
Nun, bei den Impfgegnern und »Querdenkern« gibt es viele antisemitische Verschwörungstheorien. Das ist nicht überraschend. Der Antisemitismus ist nicht durch Corona entstanden, sondern er ist immer da und wird beispielsweise in Krisenzeiten aktiviert. Aber daran ist nichts neu. Es tauchen immer wieder die ewig selben Gerüchte über die Juden auf.
Was läuft im Einwanderungsland Deutschland gerade richtig gut? Und was muss sich dringend ändern?
Darüber müsste man wahrscheinlich ein eigenes Buch schreiben. Aber eine Antwort steckt bereits in der Frage: Dass wir mittlerweile mehr oder weniger selbstverständlich vom »Einwanderungsland Deutschland« sprechen. Das allein ist ein großer Erfolg. Das ging relativ schnell.
Was halten Sie von der aktuellen Woke-Bewegung?
Viele der Ansprüche derer, die man vielleicht als »woke« bezeichnen würde, sind legitim und nachvollziehbar. Aber: Alle könnten etwas gütiger miteinander sein. Nicht in allen Fragen natürlich. Und bitte nicht ganz so autoritär daher kommen, wie das einige tun.
Und wie reagieren Sie auf den Satz: »Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!«?
Ach, oft genug wirkt das wie eine Schutzbehauptung derer, die keinen Gegenwind wollen – vor allem nicht von Leuten, die nun auch mitreden und nicht schon immer »von hier« waren. Und oftmals steckt halt auch ein Vorurteil hinter diesem Satz. Man weiß, das man etwas sagt, was eigentlich nicht geht und versucht damit noch irgendwie die Kurve zu kriegen.
Was sagt es über Deutschland aus, dass Sie beide sich ausgerechnet hier kennengelernt haben?
Na, dass Deutschland ein Ort geworden ist, wo ein alter Jude und ein nicht mehr ganz so junges Kind von Gastarbeitern aus der Türkei Freunde werden können.