„In diesem Buch erzähle ich Geschichten von meinem Leben auf der Hallig Hooge. Sie handeln von den Bewohnern, ihren und meinen Vorfahren. Seit Generationen leben sie hier und trotzen den Naturgewalten. Es sind Anekdoten von Menschen, die dickköpfig und trotzdem liebenswert, wettergegerbt und trotzdem sanft sind.
Die Geschichten sind geprägt von der Landschaft, dem Wetter und der Natur. Die Jahreszeiten in ihrem Farbenspiel zu durchleben erfüllt mich immer wieder. Ich kann mich nie sattsehen. Die Luft ist würzig und salzig, angefüllt mit Vogelstimmen. Und trotz all dieser Geräusche übermannt mich die Stille, die mich immer wieder innehalten lässt!
Das Meer ist für uns nicht der weite Ozean, sondern das oft unbändige Wasser der Nordsee. Es umgibt uns und durchzieht in kleinen und großen Gräben, den Flieths, das Land. Das Kommen und Gehen des Wassers bestimmt das Leben und diesem Rhythmus unterwerfen sich die Bewohner seit der ersten Besiedlung. Gott muss eine unbändige Freude verspürt haben, diese Wunderwelt zu erschaffen. Anders kann ich mir die Schönheit nicht erklären.
Mich lehrt das Wasser auch Demut – jeden Tag aufs Neue. Ich bin mittendrin und fühle mich angesichts dieser Fülle ganz klein, obwohl ich mich doch groß fühlen möchte. Ich kann das Kleinsein ohne Zaudern annehmen, denn Gott hat mir Augen und Ohren für die Fülle des Lebens auf der Hallig geöffnet. Ich lebe in einem Paradies aus Himmel, Erde, Luft und Meer.
Je älter ich werde, umso häufiger denke ich über meine Träume und Vorstellungen nach, die ich als junge Frau hatte. Ich wollte reich und anerkannt werden, berühmt als Malerin und wenn das nicht klappt, dann wollte ich wenigstens eine gute Chirurgin werden. Ich wurde weder das eine noch das andere. Dafür wurde ich Arztfrau, vierfache Mutter, siebenfache Großmutter, Hauswirtschaftsleiterin, Arzthelferin und Röntgenassistentin. Ich war zuständig für das Personal und die Abrechnung in der orthopädischen Praxis meines Ehemannes. Ich wurde Lektorin, Prädikantin und letztendlich auch Seelsorgerin einer kleinen Gemeinde.
Mit 61 Jahren beschloss ich, mein Leben noch einmal umzukrempeln, und zog auf die Hallig Hooge. Ich ging zurück an den Ort meiner Kindheit.
Ich konnte eintauchen in die Welt, die ich vor fast 50 Jahren verlassen hatte, als hätte es nie ein Dazwischen gegeben. Mich erfasste ein Staunen: Nirgendwo sind mir die Menschen so nah und wichtig wie hier. Nirgendwo ist das Feiern so ausgelassen und ansteckend wie hier. Nirgendwo ist der Himmel höher, das Wasser weiter, das Land grüner. Nirgendwo ist mir Gott so nah. Es ist, als wäre ich in einem Kloster unter freiem Himmel.“
Gertrude von Holdt