Keine Lüge hat Bestand, wenn die Toten sprechen!

Cassie Raven, Assistentin der Rechtsmedizin mit einer Vorliebe für Piercings und Tattoos, ist für gewöhnlich hart im Nehmen. Als ihre geliebte Großmutter ihr jedoch gesteht, sie jahrelang über den Tod ihrer Eltern belogen zu haben, ist Cassie tief erschüttert. Es gab keinen tödlichen Unfall, stattdessen wurde ihr Vater für den brutalen Mord an ihrer Mutter verurteilt. Mithilfe von DS Phyllida Flyte stellt Cassie Recherchen an, die jedoch immer mehr Fragen aufwerfen. Dann taucht ihr Vater nach 17 Jahren Gefängnis bei Cassie auf und behauptet, unschuldig zu sein. Nur die Toten können die ganze erschütternde Wahrheit enthüllen ...

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»A.K. Turner kombiniert Naturwissenschaft und exzellentes Storytelling.«

Val McDermid

A. K. Turner: Wer mit den Toten spricht
A. K. Turner

A. K. Turner

A. K. Turner, die viele Jahre als Produzentin für die BBC arbeitete, dreht Dokumentarfilme und True-Crime-Dokumentationen für das Fernsehen. Sie entwickelte die Figur der Cassie Raven, Assistentin der Rechtsmedizin, ursprünglich für eine BBC-Radio-Sendung.
Val McDermid entdeckte die Autorin und lud sie zum Harrogate Crime Festival ein. Ihre ersten beiden Romane mit Cassie Raven, Tote schweigen nie und Wer mit den Toten spricht, haben die Leser*innen begeistert. A. K. Turner lebt in London.

Leseprobe

Wer mit den Toten spricht

»Er war immer so ein fröhlicher kleiner Junge.«
Bradleys Mutter sah Cassie direkt ins Gesicht, doch ihre Pupillen waren groß und ohne Fokus – mit den Gedanken war sie meilenweit weg.
»Seine Lehrerin in der ersten Klasse hat ihn immer Sonnenschein genannt«, fügte sie hinzu, und das plötzliche Lächeln verlieh ihren tränenverschwommenen Zügen Kontur.
Cassie hoffte inständig, dass Mrs Appleton ihren Sohn gerade mit fünf oder sechs Jahren vor sich sah, lachend auf einem Fahrrad – alles, nur nicht jenes Bild des fünfzehnjährigen Bradley, das ihr für immer bleiben würde: auf seinem Bett liegend, das Kabel seines Laptops fest um den Hals gezurrt, das halb von der Wandleuchte über seinem Kopf herabhing.

Die beiden Frauen saßen im Besichtigungsraum der Leichenhalle, so nah nebeneinander, dass sich ihre Knie berührten. »Ich versteh’s einfach nicht.« Blinzelnd kehrte Kim Appleton mit einem Ruck in die Realität zurück. »Er hat keinen unglücklichen Eindruck gemacht. Nie hat er etwas davon gesagt, dass er gemobbt wird oder so was. Ich meine, das hätte er mir doch erzählt … oder? Wir haben uns doch immer gut verstanden.« Ihr Blick zuckte zu ihrem Ehemann Steven hinüber, der in dem pastellfarben gestrichenen Raum auf und ab tigerte wie ein Mann, der nach jemandem sucht, den er verprügeln kann. »Jedenfalls so gut, wie man es bei einem Teenager erwarten kann.«
Cassies Antwort war ein verständnisvolles Murmeln. Fünf Jahre als Sektionsassistentin hatten sie gelehrt, dass trauernde Hinterbliebene eine Klagemauer brauchten und nicht etwa Konversation. Und außerdem, was könnte sie schon Tröstendes sagen? Aus welchem Grund auch immer, Bradley Appleton hatte sein Leben beendet, noch ehe es richtig begonnen hatte. Dieser egoistische kleine Scheißer … Doch das Aufwallen des Zorns löste sich rasch zu Mitleid auf. Es war erst zehn Jahre her, dass Cassie selbst in Bradleys Alter gewesen war und sich abgemüht hatte, nicht im Sog eines emotionalen Strudels unterzugehen. Dieses Nicht-Wissen, wer man war, hartnäckig im Zwiespalt mit der Welt. Ein Fünfzehnjähriger war doch kaum imstande, die Konsequenzen seines Handelns zu erfassen, geschweige denn den brutalen, unmöglich zu lindernden Kummer vorherzusehen, den er seinen Eltern bereitet hatte – lebenslängliche Trauer ohne Aussicht auf Bewährung.

Heute Morgen hatte Cassie Bradley aus dem Leichenkühlschrank geholt und ihn für den Besuch seiner Eltern zurechtgemacht. Jetzt lag er hinter der verhängten Glaswand, die das Besichtigungszimmer unterteilte. Wenn seine Eltern so weit waren, würde sie die Vorhänge zurückziehen, sodass man den Leichnam sehen konnte. Die dunkelrote Bettdecke war so weit hochgezogen, dass sie den Striemen verdeckte, der sich in seinen Hals gegraben hatte. Sie würde sie ermutigen, zu ihm hineinzugehen, ihm nahe zu sein, ihn anzufassen, wenn sie wollten – die Psychiater sagten, das helfe beim Trauerprozess. Es war wichtig, nichts zu überstürzen, seiner Mutter und seinem Vater Zeit zu geben, sich für die Endgültigkeit jenes Augenblicks zu wappnen. Das hier war, als warte man im Theater darauf, dass der Vorhang sich hebt, nur mit einer grauenhaften Wendung.
Kim Appleton redete jetzt bestimmt schon seit zehn Minuten ohne Pause von ihrem Sohn und versuchte, die Realität hinter den Vorhängen abzuwehren, ihn noch ein kleines bisschen länger am Leben zu erhalten. Jetzt jedoch verstummte sie.
»Sind Sie so weit?«, erkundigte sich Cassie und achtete sorgfältig darauf, beide Eltern in die Frage mit einzubeziehen.
Ein Nicken von Kim, ein verbittertes Achselzucken von ihrem Mann.

Minuten später waren sie auf der anderen Seite der Glastür und standen um Bradleys Leichnam herum. Seine Mutter beugte sich über ihn und strich ihm übers Haar, als wolle sie ihn in den Schlaf streicheln.
Bradleys ziemlich langes Haar war unnatürlich schwarz und stand in scharfem Kontrast zur Blässe seines Gesichts; eine seiner Augenbrauen und beide Ohren waren mehrfach gepierct. Im Goth-Jargon war Bradley ein »Baby-Bat«, genau wie Cassie es in seinem Alter gewesen war. Als sie seine Mutter am Telefon gefragt hatte, ob sie den Körperschmuck für die Besichtigung entfernen sollte, hatte Kim schnell Ja gesagt und hinzugefügt: »Ich fürchte, sein Vater konnte das alles nicht ausstehen.«
Cassie verstand – sie nahm vor einem Besuch von Angehörigen jedes Mal ihre Gesichtspiercings heraus und kämmte ihr schwarz gefärbtes Haar so, dass es den hochrasierten Undercut verdeckte. Obgleich sie den ganz krassen Goth-Look heruntergefahren hatte, seit sie mit der Schule fertig war, war ihr klar, dass sich manche Menschen an ihrem Aussehen stießen. Das Letzte, was sie wollte, war, irgendjemanden mit so etwas zu verstören – bei allem, was derjenige gerade durchmachen musste.
Cassie hatte den schwarzen Eyeliner weggewischt, der um Bradleys Augen verschmiert gewesen war, als man ihn eingeliefert hatte, sodass er jetzt mehr oder weniger aussah wie jeder andere fünfzehnjährige Junge: rührend jung, die Haut flaumig und bis auf ein paar Pickel am Kinn makellos. Die roten Punkte auf Augenlidern und Wangen waren keine Hautunreinheiten, sondern oberflächliche Einblutungen – Petechien genannt – , winzige Blutgefäße, die durch den erhöhten Venendruck geplatzt waren.

Kim Appleton blickte zu Cassie auf. »Kurz bevor … es passiert ist, habe ich ihm gezeigt, wie man Cupcakes macht. Er hatte schwarze Lebensmittelfarbe gekauft, für den Teig.« Sie lächelte, erlebte jenen Moment von Neuem. »Komischerweise backt er unheimlich gern« – noch nicht imstande, in der Vergangenheitsform über ihr Kind zu sprechen. »Man sollte doch meinen, das wäre nichts für Goths.«
»Deswegen hat er das gemacht!« Die ersten Worte, die Bradleys Vater von sich gab, brachen in einem wütenden Zischen aus ihm heraus, während sein Finger auf seinen Sohn zeigte. »Dieser ganze Totenschädel- … Scheißdreck, auf den er und seine sogenannten Freunde so abfahren!«
Kims Gesicht stürzte in sich zusammen – im wahrsten Sinne des Wortes; die Muskeln um Mund und Unterkiefer erschlafften jäh, als wären Drähte durchtrennt worden, an denen sie aufgehängt waren. Ihr Mann sah ihr schwer atmend ins Gesicht, ehe er den Blick abwandte. »Tut mir leid, Schatz, ich kann das nicht. Wir sehen uns zu Hause.«
»Steve!« Kim streckte die Hand aus, doch die Tür fiel bereits hinter ihm zu.
Hand auf den Unterarm legte, sofort bereit, sie zurückzuziehen, wenn sie unerwünscht schien. »Hatten Bradley und sein Dad eine schwierige Beziehung zueinander?«
»Manchmal.« Ihre Stimme war heiser. »Bis vor ein paar Monaten sind sie noch unheimlich gern zusammen zum Fußball gegangen – Sie wissen schon, so Vater-und-Sohn-Geschichten. Steve hat eine Dauerkarte für Arsenal. Aber dann hat Bradley mit diesem ganzen Goth-Zeug angefangen und wollte nicht mehr mitkommen. Steve … also, er hat sich mit alldem sehr schwergetan.«
»Und gestern Abend hatten sie Streit?«
»Und gestern Abend hatten sie Streit?«
»Steve hat sich darüber mokiert, dass er Eyeliner trägt … hat ihm unterstellt, er wäre schwul.« Sie und Cassie wechselten einen Blick. »Es hat ziemlich gekracht. Das Letzte, was Bradley gesagt hat, war, er würde sich wünschen … er würde sich wünschen, er könnte einschlafen und nie wieder aufwachen.«
Ihr Blick wanderte zurück zu Bradleys Gesicht. »Aber das hier … das ist alles meine Schuld. Ich habe es der Polizistin ja schon gesagt, wir hatten in letzter Zeit Sorge, dass er vielleicht Cannabis raucht. Manchmal war er ein bisschen … neben der Spur? Also gehe ich jetzt immer und sehe nach ihm, wenn er länger oben in seinem Zimmer ist. Aber wir haben uns einen Film angeschaut und … Wein getrunken.« Mit gequältem Blick sah sie Cassie an. »Wäre ich doch nur zehn Minuten früher raufgegangen, dann hätte ich ihn vielleicht retten können.«

Wäre ich doch. Hätte ich doch. Die Selbstgeißelungslitanei derer, die einen geliebten Menschen durch einen plötzlichen, unerwarteten Todesfall verloren hatten. Hätte ich sie doch an dem Abend nicht ins Auto steigen lassen. Hätten wir doch nur früher den Notarzt für Mum gerufen. Hätten wir doch beim Hausarzt auf einem Test bestanden. Ein niemals endender Katechismus, den Cassie ihrem schlimmsten Feind nicht wünschen würde. Doch in diesem Stadium zu versuchen, Einwände gegen eine solche Denkweise vorzubringen, war sinnlos. Den besten Rat hatte sie zu Beginn ihrer Ausbildung bekommen, bei einem Kurs zum Thema Umgang mit Hinterbliebenen: Sagen Sie einem Trauernden nicht, was er empfinden soll.
»Hören Sie, Kim, noch wissen wir nichts Genaues«, erwiderte sie behutsam. »Wahrscheinlich haben wir nach der pathologischen Untersuchung und den Laborergebnissen mehr Informationen.« Untersuchung: Ihr Lieblingseuphemismus für den Dekonstruktionsprozess, dem der Leichnam von Kims und Steves Sohn bei der Suche nach Antworten unterzogen werden würde.
Cassie gestattete sich, zu hoffen, dass Bradley wirklich irgendetwas eingeworfen hatte und völlig breit gewesen war, als er sich stranguliert hatte. Wenn er nicht bei klarem Verstand gewesen war, würde das seinen Tod für seine Eltern ein klein wenig erträglicher machen.
Kim nickte vage, den Blick fest auf das Gesicht ihres Sohnes gerichtet.
Cassie hatte immer gedacht, sie verstünde recht gut, wie wichtig es für die Menschen war zu wissen, warum jemand gestorben war, den sie geliebt hatten. Doch vor sechs Wochen hatte dieses Verstehen eine ganz neue, skalpellscharfe Bedeutung bekommen.
Und zwar, als sie die Entdeckung gemacht hatte, die alles zertrümmert hatte, was sie bis dahin über ihr Leben zu wissen geglaubt hatte.
Cassies Mutter war nicht bei einem Autounfall ums Leben gekommen – das war die Geschichte, die ihr seit ihrem vierten Lebensjahr erzählt worden war. Sie war von Cassies Vater ermordet worden.

Buch Mockup A. K. Turner - Wer mit den Toten spricht

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 »Wie ein Punk-Superstar mischt Cassie Raven die Krimi-Szene gehörig auf.«

Sarah Hilary

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