Kein Grab ist tief genug für die Wahrheit
1944, der Krieg geht allmählich dem Ende entgegen. In den schottischen Highlands heben zwei Männer in einem Torfmoor fieberhaft ein Loch aus, um zwei nagelneue amerikanische Motorräder zu vergraben. Nach Kriegsende wollen sie zurückkehren und sich die Maschinen holen, aber daraus wird nichts mehr.
Mehr als siebzig Jahre später: Eine »Schatzkarte« ihres verstorbenen Großvaters führt eine junge Amerikanerin Alice in die schottischen Highlands zu einem abgelegenen Ort mitten im Moor: Dort stößt sie auf ein vergrabenes, erstaunlich gut erhaltenes Motorrad, Baujahr 1944 – und auf eine männliche Leiche aus einer ganz anderen Zeit.
DCI Karen Pirie, spezialisiert auf Cold Cases, ist eigentlich wegen eines anderen Falles in der Gegend. Doch der Tote im Moor lässt ihr keine Ruhe ...
Leseprobe
Das Grab im Moor
1944 – Wester Ross, Schottland
Das schmatzende Geräusch von zwei Spaten in festem Torf war unverkennbar. Manchmal hatten sie denselben Rhythmus, dann wieder nicht: Sie überlagerten sich, trennten sich, erklangen nacheinander, fanden dann wieder zusammen, genau wie der schwere Atem der Männer. Der Ältere der beiden hielt einen Moment lang inne, stützte sich auf den Griff und ließ die kühle Nachtluft den Schweiß in seinem Nacken trocknen. Sein Respekt vor Totengräbern wuchs, die so etwas an jedem Werktag tun mussten. Wenn die Sache erst einmal vorbei war, würde er das ganz bestimmt nicht zu seinem Beruf machen.
»Komm schon, du alter Sack«, rief sein Begleiter leise. »Für Teepausen haben wir keine Zeit.«
Das wusste der Mann. Sie hatten die Sache zusammen angefangen, und er wollte seinen Freund nicht hängen lassen. Doch er bekam schlecht Luft. Er unterdrückte ein Husten und beugte sich vor, um weiterzumachen.
Wenigstens hatten sie sich die richtige Nacht ausgesucht.
Ein klarer Himmel mit einem Halbmond, der gerade hell genug für ihre Arbeit war. Sicher, sie wären für jeden zu sehen, der den Weg neben dem kleinen Bauernhaus hochkam. Allerdings bestand kein Grund, weshalb jemand mitten in der Nacht unterwegs sein sollte. Keine Patrouille wagte sich so weit in die Schlucht, und dank des Mondscheins brauchten sie kein Licht, das Aufmerksamkeit erregen könnte. Sie waren überzeugt, dass man sie nicht entdecken würde. Schließlich waren ihnen durch ihr Training Geheimaktionen zur zweiten Natur geworden.
Eine sanfte Brise von der Bucht trug den Geruch der Ebbe nach Seetang und ein leises Brandungsgeräusch von Wellen an den Felsen herüber. Gelegentlich stieß ein Nachtvogel, den keiner der beiden bestimmen konnte, einen trostlosen Schrei aus und ließ sie jedes Mal zusammenfahren. Doch je tiefer das Loch wurde, desto weniger drang die Außenwelt zu ihnen durch. Nach einer Weile konnten sie nicht mehr über den Grubenrand sehen. Keiner der beiden Männer litt an Platzangst, doch diese Beengtheit bereitete ihnen Unbehagen.
»Das reicht.« Der ältere Mann lehnte die Leiter an die Seite und kletterte langsam zurück in die Welt, während er zu seiner Erleichterung spürte, wie sich die Luft um ihn her wieder bewegte. Zwei Schafe regten sich auf der anderen Seite der Schlucht, und in der Ferne bellte ein Fuchs. Noch immer keine andere Menschenseele weit und breit. Er ging auf den zwölf Meter entfernten Anhänger zu, wo eine geteerte Plane etwas Großes, Rechteckiges bedeckte.
Gemeinsam zogen sie die Leinwandhülle zurück, sodass die beiden Holzkisten zum Vorschein kamen, die sie zuvor gezimmert hatten. Sie wirkten wie zwei einfache, auf der Seite liegende Särge. Die Männer griffen nach den Seilen der ersten Kiste, mit denen sie gesichert war, und manövrierten sie behutsam von der Ladefläche des Anhängers herunter. Unter Ächzen und Fluchen schleppten sie die Last zum Rand der Grube und ließen sie vorsichtig in die Tiefe.
»Scheiße!«, stieß der jüngere Mann aus, als das Seil zu schnell durch seine Handfläche rutschte und seine Haut aufschürfte.
»Zieh einen verdammten Strumpf drüber«, sagte der Ältere. »Du weckst noch die ganze verfluchte Schlucht.« Er stapfte zum Anhänger zurück und prüfte mit einem Blick über die Schulter, ob der andere hinter ihm war. Sie wiederholten die Prozedur, jetzt langsamer und schwerfälliger, da sich die körperliche Anstrengung immer mehr bemerkbar machte.
Dann war es Zeit, die Grube zuzuschütten. Sie arbeiteten unter grimmigem Schweigen und schaufelten so schnell wie möglich. Als die Nacht allmählich an der Bergkette im Osten zu verblassen begann, machten sie sich an den letzten Teil ihrer Aufgabe und trampelten die oberste Torfschicht wieder fest. Sie waren dreckig, stanken und waren erschöpft. Doch die Arbeit war getan. Eines Tages, in ferner Zukunft, würde es sich auszahlen.
Bevor sie zurück ins Fahrerhaus kletterten, schüttelten sie sich die Hände und zogen sich dann in eine raue Umarmung.
»Wir haben’s geschafft«, sagte der ältere Mann zwischen Hustenanfällen und hievte sich hoch auf den Fahrersitz. »Wir haben’s verdammt noch mal geschafft.«
Noch während er sprach, krochen die Mycobacterium tuberculosis-Organismen durch seine Lunge, wo sie Gewebe zerstörten, Löcher gruben und Lungenbläschen blockierten.
In zwei Jahren würde er für sein Tun nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden können.
2018 – Wester Ross
Alice Somerville mühte sich mit der geschmeidigen Grazie einer Frau, die vierzig Jahre älter war als sie, vom Fahrersitz ihres Ford Focus. Ächzend streckte sie die Glieder, während sie in der kalten Brise zitterte, die vom Meeresarm am Fuß des Hanges herüberwehte. »Ich hatte vergessen, dass die Fahrt hier hoch so lang dauert«, murrte sie. »Die letzte Stunde nach Ullapool hat sich ewig gezogen.«
Ihr Ehemann richtete sich mühsam an der Beifahrerseite auf. »Und du warst diejenige, die Einspruch erhoben hat, als ich gestern Abend darauf bestand, einen Zwischenstopp in Glasgow einzulegen.« Er ließ die Schultern kreisen und bog den Rücken durch. »Wenn ich auf dich gehört hätte, wäre meine Wirbelsäule jetzt irreversibel geschädigt.« Er grinste sie an, ohne zu ahnen, wie dümmlich seine Gesichtszüge dabei aussahen. »Schottland erstreckt sich immer weiter, als man denkt.« Er wackelte mit je einem Bein, um seine Skinny Jeans wieder bis zu den braunen Lederschnürschuhen zu zwingen.
Alice zog den Haargummi von ihrem Pferdeschwanz und schüttelte das dunkle Haar aus. Als es um ihr Gesicht fiel, ließ es ihre spitzen Züge weicher erscheinen und betonte ihre geraden Brauen und hohen Wangenknochen. Sie öffnete den Kofferraum und holte ihren Rucksack heraus. »Letztes Jahr waren wir so aufgeregt, dass uns die Entfernung nicht weiter aufgefallen ist. Aber es ist hübsch. Schau dir die Berge an, wie sie da hinten beinahe miteinander zu verschmelzen scheinen. Und das Meer, diese großen heranwogenden Wellen. Es ist kaum zu fassen, dass das hier zum gleichen Land gehört wie Hertfordshire.«
Sie dehnte die Schultern und beugte sich dann zurück in den Wagen, um ein Blatt Papier herauszuholen, das sie vor der Abfahrt ausgedruckt hatte. »Das hier ist definitiv der richtige Ort.« Sie verglich die Abbildung auf dem Foto mit dem länglichen, flachen Bauwerk, vor dem sie geparkt hatten. Es war ein plumper Steinbau, der an der Seite des Hügels kauerte, aber offensichtlich vor Kurzem mit einem Auge für die ursprüngliche Linienführung renoviert worden war. Der Putz zwischen den Steinen war immer noch relativ frei von Moos und Flechten, die Fensterrahmen wirkten robust und gerade, ihre Farbe war nicht verwittert.
Will wirbelte herum und deutete auf ein zweistöckiges, weiß getünchtes Cottage auf der anderen Seite der Schlucht.
»Und das muss Hamishs Haus sein. Sieht ziemlich schick aus für den Arsch der Welt.«
»Es ist kein Wunder, dass wir letztes Jahr nicht hergefunden haben. Laut Grantos Karte war das hier nichts weiter als eine Ruine. Ein Haufen Steine, der früher einmal ein Kuhstall war. Und es gibt keine Spur von der Schafhürde, die er als wichtigste Orientierungshilfe von der Straße aus eingezeichnet hatte.« Alice knurrte missbilligend. Sie wies auf den Hang, wo Dutzende Schafe an Gras knabberten, das schon ganz stoppelig aussah. »Wo auch immer ihr Weidezaun ist, jedenfalls nicht mehr auf dem Hügel da.«
»Aber jetzt sind wir hier. Dank Hamish.« Will holte eine große Reisetasche aus dem Auto. »Machen wir es uns gemütlich.«
Alice ließ den Blick durch die Schlucht schweifen. Das weiße Cottage sah verlockend nah aus, doch Hamish hatte sie gewarnt, zwischen ihnen läge ein tückisches Torfmoor.