Die Bücherstadt Leipzig nimmt eine zentrale Rolle im Roman ein. Was verbinden Sie mit Leipzig? Wie kommt es, dass Sie die Stadt als Handlungsort für Ihren Roman ausgewählt haben?
Ich war ursprünglich Journalist und bin kurz nach der Wende nach Ostdeutschland gegangen, um dort zu volontieren. Dabei habe ich viel Zeit in Leipzig verbracht. Anfang der 1990er gab es dort noch zahlreiche der alten, verwinkelten Antiquariate, die auch in meinem Roman eine Rolle spielen – heute ist davon nur eine Handvoll übrig. In einigen davon habe ich viele Stunden verbracht und mich in den morbiden und zugleich literarischen Charme der Stadt verliebt. Das Morbide findet man dort heute auch noch, man muss nur ein bisschen gründlicher suchen. Im Roman wollte ich das herausarbeiten, er spiegelt ziemlich genau meine Gefühle für das „alte“ Leipzig wider.
Ein Teil des Romans spielt im Graphischen Viertel, das im zweiten Weltkrieg zu großen Teilen zerstört wurde. Wie haben Sie über die Zeit damals recherchiert?
Das Graphische Viertel der Vorkriegszeit existiert nicht mehr. Damals gab es in Leipzig über 2000 Betriebe, die in irgendeiner Form von Büchern lebten: Verlage, Druckereien, Vertriebe, unzählige Buchhandlungen. Die meisten wurden bei einem Bombenangriff 1943 zerstört, aber daher rührt noch heute der Ruf der „Bücherstadt“. Wenn man einen Roman schreibt, verbringt man im Kopf sehr viel Zeit an seinen Schauplätzen, für mich fühlt sich das sehr konkret und real an, genau wie eine Reise. Ich habe also erst einmal einige der hervorragenden Fachbücher über das Graphische Viertel gelesen und bin dann beim Schreiben in meiner Vorstellung dorthin gereist, direkt in die Vergangenheit und in diese unglaubliche Welt der Bücher, die es heute nicht mehr gibt.
Eine andere Zeitebene des Romans zeigt Deutschland zur Zeit der 70er Jahre. Wie schwer war es, die unterschiedlichen Stimmungen in der Bevölkerung darzustellen?
Ich selbst war damals noch ein Kind, aber ich habe im Laufe der Jahre so viele Bücher und Filme aus der Zeit konsumiert, dazu noch einmal gezielt Sachliteratur gelesen während der Recherche für DIE BÜCHER, DER JUNGE UND DIE NACHT, dass sich die 1970er für mich sehr vertraut anfühlen. Und weil sie unmittelbar auf den gesellschaftlichen Umbruch von 1968 folgten, waren sie ein perfekter Gegensatz zu dem früheren Erzählstrang. Der Protagonist sagt an einer Stelle, dass sich für ihn Vietnam und Kambodscha näher und realer anfühlen als die Zeit des Nationalsozialismus. Ich glaube, das bringt das Lebensgefühl der jungen Generation von 1971 ganz gut auf den Punkt.
War es bedrückend, die Jahre der Naziherrschaft heraufzubeschwören?
Das Buch ist ja kein Roman über den Nationalsozialismus, sondern über die Haltung vieler Männer und
Frauen, die den Nationalsozialismus ermöglicht hat. Das ist auch deshalb ein Unterschied, weil ich mich dem Thema konsequent aus der Sicht der Menschen genähert habe, nicht aus einer historischen
Vogelperspektive. Ich bleibe immer sehr nah am Empfinden der Figuren, und Menschen waren damals im Kern nicht anders als wir heute. Dadurch hatte ich eine große Nähe zu ihnen, und so entsteht beim Schreiben eher Wärme als Schrecken.
Was ist, abseits der Handlung, das Thema des Romans?
Das Verhältnis von Realität und Lüge. Am Ende muss der Protagonist eine Entscheidung treffen, bei der er seine Identität und sein Leben aufs Spiel setzt, indem er ganz klar sagt: Ich kenne die Wahrheit, ich vertraue darauf und auf meine Einschätzung davon. Er lehnt die Lüge ab, egal, wie verführerisch sie ist. Darum kreist – verkörpert durch mehrere Figuren – die gesamte Erzählung.
Im Buch begegnen wir den unterschiedlichsten Buchräubern und Sammlern. Sammeln Sie auch antike Bücher?
Ich habe tatsächlich vor gut dreißig Jahren in Leipzig damit begonnen, phantastische Literatur aus dem
Deutschland der Vorkriegsjahre zu sammeln. Viele wissen nicht, dass die Phantastik damals schon einmal einen großen Boom erlebt hat – vor allem in ihrer schwarzromantischen Ausprägung –, angefeuert auch von einem allgemeinen Interesse der Menschen am Okkultismus. Ich habe schon einmal ein Buch genau darüber geschrieben, DAS ZWEITE GESICHT, und für die DIE BÜCHER, DER JUNGE UND DIE NACHT bin ich nun wieder tief in dieses Thema eingetaucht.
Wie hat sich die Arbeit am Buch von der Arbeit an Ihren anderen Büchern unterschieden?
Bücher zu schreiben kann an manchen Tagen mühsame Arbeit sein – man kann sie auf niemanden abwälzen, sich nicht krankmelden. Wenn man es nicht selbst macht, geschieht exakt nichts. Und das kann bei manchen Romanen anstrengend sein. Nicht so bei DIE BÜCHER, DER JUNGE UND DIE NACHT: Ich habe seit Jahren kein Buch mehr geschrieben, das mir bei aller Komplexität der Erzählstränge so leicht von der Hand ging. Es war ein bisschen wie Nachhausekommen, eine Rückkehr zu einer Art von erwachsenem Roman, die mir gefehlt hatte – was mir freilich erst bei der Arbeit daran klargeworden ist. Ich bin sehr glücklich mit diesem Buch, und ich werde auch in Zukunft vermehrt in dieser Richtung arbeiten.