Was hätte Jack the Ripper im Darknet angerichtet?
Unsichtbar für den Rest der Welt planen »Jack’s Boys« im Darknet ihre Taten: perfekt ausgeführte Morde nach dem Vorbild ihres Idols Jack the Ripper. Fotos der verstümmelten Opfer landen anschließend bei willkürlich ausgewählten Polizeistationen weltweit, ohne dass auch nur die geringste Spur zu den Killern führen würde. »Jack’s Boys« fühlen sich absolut unantastbar – bis Collegestudent Connor Mitchell zufällig ihren Chatroom hackt. Und ohne es zu ahnen ganz oben auf der Abschussliste landet. Doch die Killer haben weder mit Großvater Ross gerechnet, einem Ex-Marine, noch mit Connors bester Freundin Niki …
Leseprobe
Die Komplizen
AN EINEM MONTAG, 12:47 UHR, MITTELEUROPÄISCHE ZEIT …
Der junge Polizist, der in der französischen Kleinstadt Cressy-sur-Marne für die Rekonstruktion von Verkehrsunfällen zuständig war, hasste seine Arbeit mit einer Inbrunst, die man ihm bei seiner unaufgeregten Art nicht zugetraut hätte. Es war die erste Aufgabe, mit der er seit seinem Dienstantritt vor siebzehn Monaten betraut worden war. Er hatte darin ein Sprungbrett für ein anderes, interessanteres und spektakuläreres Ressort gesehen. Waffen. Verfolgungsjagden. Festnahmen und beinharte Verhöre von abgebrühten Kriminellen. Fehlanzeige. Der Job war ein Rohrkrepierer und bot ihm Tag für Tag nichts weiter als Dieses Fahrzeug war auf der Fahrbahn in nördlicher Richtung unterwegs, als es auf der Schnellstraße ein Vorfahrtsschild missachtete und mit dem in östlicher Richtung überholenden Lkw zusammenprallte. Den Abmessungen der Bremsspuren sowie Zeugenaussagen zufolge fuhr das Unfall verursachende Fahrzeug bei deutlicher Überschreitung der vorgeschriebenen Geschwindigkeit … und so weiter und so fort, bis zum Abwinken.
Ein Unfall wie der andere. Und wenn ein Zusammenstoß zu schweren Verletzungen oder sogar zu Toten führte, wenn es also endlich interessant wurde, übernahm jedes Mal ein dienstälterer Kollege die Nachuntersuchung.
Was ihn mächtig frustrierte.
Den ganzen Vormittag hatte er, mit einem Bandmaß bewaffnet, am letzten Unfallort zugebracht und Fotos geschossen, dabei, so gut es ging, die wütenden Schuldzuweisungen, das übliche Hintergrundrauschen eines jeden Unfalls ignoriert – »Das geht ja wohl eindeutig auf Ihr Konto!« »Von wegen! Hätten Sie auf die Straße geachtet … « – und sich die ganze Zeit nur gefragt, wann er endlichvon der Verkehrsabteilung zu etwas Aufregenderem wechseln könne. Zum Beispiel zum Mord-, zum Drogen- oder notfalls auch nur zum Einbruchsdezernat oder zur Sitte – alles. Hauptsache, er brauchte sich nicht länger die Lügen über rote und grüne Ampeln, über Stoppschilder oder darüber anzuhören, wer Vorfahrt hatte und wer zuerst im Kreisverkehr gewesen war. Wenn er dann endlich sämtliche Aussagen, Messungen und Fotos im Kasten hatte und an seinen Schreibtisch zurückkehren konnte, war der Tag schon halb vorbei. Die anderen Kollegen seiner Einheit machten Mittagspause, und so war er in dem kleinen Gehege aus Schreibtischen und Aktenschränken allein.
Er loggte sich in seinen Computer ein.
Er hatte vor, seine Fotos hochzuladen und mit seinen Grafiken anzufangen, dem ersten Teil des Berichts, der an die Versicherung weitergeleitet würde.
Stattdessen prangte als Vollbild ein Foto auf seinem Bildschirm.
Er wäre fast vom Stuhl gekippt.
Eine Leiche.
In Farbe.
Er hielt sich an der Schreibtischkante fest und beugte sich vor.
Eine junge Frau. Ungefähr in seinem Alter.
Mit aufgeschlitzter Kehle.
Die geöffneten Augen starrten in den Himmel. Mit leerem Blick. Kalt. Die Angst war in ihrem Gesicht dem gewaltsamen Tod gewichen.
Die Frau war jung.
Dunkles Haar. Schwarze Augen. Rotbraunes Blut rings um ihren Kopf, das im sandigen Boden versickerte.
Nackt. Die Kleider hatte ihr jemand vom Leib geschnitten und neben ihr auf einen Haufen geworfen.
Allem Anschein nach lag sie auf einem Feld. Er konnte nicht sagen, wo. Da gab es nichts, was ihm irgendwie bekannt vorkam.
Am unteren Bildrand war ein Schriftzug.
Er versuchte, sich einen Reim darauf zu machen.
Arabisch. Kyrillisch. Sanskrit. Und einige japanische oder chinesische Schriftzeichen. Alles kunterbunt durcheinander, in einem nicht zu entziffernden Kauderwelsch. Kein Französisch. Nicht einmal etwas auf Deutsch oder Spanisch, das er sich mit seinen bescheidenen Fremdsprachenkenntnissen aus der Schulzeit hätte zusammenreimen können.
Der junge Verkehrspolizist starrte auf das Bild.
Sein erster Gedanke: Das muss eine Fälschung sein.
Jemand spielt dir einen Streich, nur dass heute nicht der 1. April ist.
Er sah sich das Foto noch genauer an.
Es wirkte real.
Sein Instinkt empfahl ihm, es in den Papierkorb zu legen. Es von seiner Festplatte zu löschen und sich wieder an die Arbeit zu machen.
Tat er aber nicht. Ohne das Bild aus den Augen zu lassen, öffnete er ein neues Fenster und ging zu einem Übersetzungsprogramm. Er wechselte auf seiner Tastatur zu Arabisch und tippte mühsam die Zeichen ein. Heraus kam:
Möchtest du nicht …
Er wechselte zu Kyrillisch, nicht ganz einfach bei seiner Tastatur, und er war sich auch nicht sicher, ob er es richtig machte. Die Übersetzung ergab:
Gerne wissen, wer …
Nun wechselte er schnell zu Sanskrit.
Die junge Frau getötet hat …
Es kostete ihn ein paar Minuten, herauszufinden, dass die letzten Worte Mandarin waren und die Frage ergaben:
Und wo sie gestorben ist?
Der junge Polizist hatte auf einmal einen trockenen Mund. Er atmete flach. Bis dato hatte er in seinem Dienst noch kein einziges Mal Angst gehabt und streng genommen auch jetzt nicht; ernsthaft beunruhigt war er allerdings schon.
Er vertiefte sich erneut in das Bild. Auch wenn er kein IT-Experte war, kannte sich der junge Polizist mit dem Internet recht gut aus und fand daher ziemlich schnell die IP-Adresse, von der das Foto kam. Was ihn zum zweiten Mal auf den Gedanken brachte, dass ihn hier jemand zur Zielscheibe eines ziemlich raffinierten Streichs gemacht hatte. Das Foto war nämlich durch die Leserspalte einer hochleistungsfähigen italienischen PR-Firma generiert worden, die sich um die fragwürdigen Belange illustrer Klienten kümmerte, von gestürzten afrikanischen Politikern bis hin zu ruchlosen Konzernen, die sich um die finanzielle Haftung für Ölkatastrophen drücken wollten.
Das ergab für ihn keinen Sinn.
Er sah sich das Foto noch einmal an, war kurz davor, die ganze Sache in den Papierkorb zu verschieben, und zog schon den Cursor darüber, als er plötzlich stutzte. Langsam ließ er die Hand sinken. Spinnst du?, dachte er. Irgendjemand da draußen muss von der Sache hier erfahren. Also griff er zum Telefon auf seinem Schreibtisch und rief auf der internen Leitung einen Ermittler im Morddezernat an. Er war ihm erst ein, zwei Mal über den Weg gelaufen und konnte nur hoffen, dass er sich an ihn erinnerte.
»Sergeant«, sagte er, als der Mann sich meldete. Er gab sich Mühe, sich seine Zweifel und Nervosität nicht anmerken zu lassen. »Ich hab da, glaube ich, etwas, das Sie sehen sollten.«