Die Lebensphilosophie von Jochen Schweizer als erzählte Weisheit
In einer stürmischen Dezembernacht werden zwei ungewöhnliche Männer vom Schicksal zusammengeführt. In einer einsamen Holzhütte in den Wäldern von Norwegen trifft ein spiritueller Krieger auf einen jungen Ausreißer. Zwei Männer, die auf der Suche sind. Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Auf der Suche nach der Wahrhaftigkeit des Augenblicks. Und nicht zuletzt, auf der Suche nach sich selbst. In ihrem ungewöhnlichen Aufeinandertreffen lernen die beiden voneinander, was die Reise, die wir unser Leben nennen, wirklich ausmacht. Der erfolgreiche Unternehmer Jochen Schweizer teilt in dieser außergewöhnlich erzählten Geschichte die Erfahrungen und Erkenntnisse seines Lebens. Realität und Fiktion verweben sich und ermöglichen ein tiefes Verstehen, wie ein Leben ohne Angst und in Freiheit möglich wird.
Der Podcast mit Jochen Schweizer und Gästen
Leseprobe
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Prolog
Die Sonne war bereits untergegangen, als der Alte seine Waldhytte endlich erreichte. Er war völlig durchnässt. Erschöpft stellte er die Vorräte ab und ließ sich auf den kleinen Holzstuhl fallen. Seine Knochen schmerzten, die Glieder waren schwer. Er brauchte ein paar Minuten, um wieder zu Kräften zu kommen. Sich von dem langen Aufstieg zu erholen.
Nachdem er eine Weile still dagesessen hatte, griff er nach einem Handtuch und trocknete sich ab. Dann zog er die nassen Sachen aus und legte sie auf den Stuhl. Mit langsamen Bewegungen warf er ein paar Holzscheite in den Kamin und entfachte ein Feuer. Jede Bewegung fiel ihm schwer. Der raue Nordwind pfiff durch die Fugen. Der Alte dachte daran, dass dieser mühsame Aufstieg vielleicht sein letzter gewesen war.
Die Einwohner unten im Dorf hatten ihn gewarnt.
Sie hatten gesagt, es läge etwas in der Luft.
Sie hatten gesagt, diese Nacht würde nicht so sein wie andere Nächte.
Doch der Alte hatte längst gewusst, dass ein Sturm kommen würde. Er hatte viele Stürme gesehen und traute sich und seinen Kräften zu, den Aufstieg trotzdem zu schaffen. Wie so viele Male zuvor. Schließlich war ihm keine Wahl geblieben. Er brauchte die Vorräte, er musste ein paar Wochen über die Runden kommen. Vielleicht, hatte er gedacht, vielleicht schaffe ich es, bevor es richtig losgeht, bevor es ganz übel wird. Doch der Sturm kam ihm zuvor. Wie so oft in seinem Leben. Der Regen peitschte ihm waagerecht ins Gesicht. Mit ganzer Kraft musste er sich gegen die immer stärker werdenden Windböen lehnen. Am Horizont zerschnitten Blitze den düsteren Himmel, und er hatte noch einen mehrstündigen Marsch vor sich. Er ging einfach weiter. Und weiter. Und weiter. Wie schon so oft in seinem Leben.
Das Wetter war von Stunde zu Stunde schlechter geworden. Erst hatten sich dichte, graue Wolken zusammengezogen, dann hatte der Regen eingesetzt. Nicht einfach nur Regen. Nicht hier. Nicht in Norwegen. Hier gab es Wolkenbrüche. Unwetter von apokalyptischem Ausmaß. Regenfälle, die einem einen Vorgeschmack auf das Ende der Welt geben konnten.
Seine Hytte lag weit abgeschieden von jeder Zivilisation. Keine Straße führte hinauf, kein befestigter Weg erleichterte den Aufstieg. Nur ein paar schmale Holzstege führten über die blanken Felsen hoch auf die Steilküste. Zu diesem heiligen Ort. Da, wo seine Hytte stand, hatte sich einmal eine Tingstätte der Wikinger befunden. Ein Versammlungsort, an dem die alten germanischen Stämme Recht gesprochen hatten. Urteile gefällt, Gesetze erlassen, vielleicht auch Menschen zum Tode verurteilt hatten.
Von hier oben hatte man einen fantastischen Blick auf das Nordmeer. Auf den wilden Norden Norwegens. Auf die wunderschönen Wälder, die strenge Küste mit ihren Felsen, an denen sich Welle für Welle schäumend brach.
Und schließlich hatte er es geschafft. Nach drei Stunden Fußweg hatte er seine Zufluchtsstätte erreicht. War zu Hause, im Trockenen. Er betrachtete die Trossen, die seiner Hytte Halt gaben. Ohne die dicken Taue hätte sie den schweren Nordweststürmen nicht trotzen können, zu ausgesetzt und ungeschützt stand sie da.
Er zog den Holzstuhl ans Feuer und streckte die Hände aus, um sie zu wärmen. Bald fühlte er, wie das Blut wieder durch seine Glieder pulsierte. Wie das Leben in seinen Körper zurückkehrte. Die Wärme tat ihm gut. Kurz schloss er die Augen und verlor sich ganz in dem Moment. Lauschte dem Pfeifen des Windes in den alten Fugen. Dem Knistern in der Stille. Er atmete tief durch. Der Geruch von brennendem Holz stieg ihm in die Nase. Der Duft von brennender Föhre. Er zog die Schuhe aus und spürte das weiche Rentierfell unter seinen Füßen. Es war das Gefühl von Heimat. Das Gefühl, angekommen zu sein.
Der Alte liebte es, hier zu sein. In den Besitz der Hytte war er bereits vor sehr vielen Jahren gelangt. In seinem ersten Leben. Einem Leben, das ihm heute so weit entfernt schien, dass es nur noch eine blasse Erinnerung war. Die Hytte aber war geblieben. Eine physische Manifestation seiner Vergangenheit, ein Ankerpunkt. Die Hytte war zu einer Zeit in sein Leben gekommen, als er geglaubt hatte, keine Perspektive zu haben. Als er gänzlich ohne Hoffnung gewesen war. Bis heute war sie sein Refugium. Sein heiliger Platz. Der Ort, an dem er seinen inneren Frieden fand. Fern der Zivilisation, weit weg von der Außenwelt, von all den Dingen, die einen davon ablenkten, bei sich selbst zu sein. Es hieß, die Einsamkeit könne einen Mann an diesem Ort wahnsinnig machen. Zumindest, wenn er nie gelernt hatte, mit sich allein zu sein. Er aber kannte die Einsamkeit. Er verstand es, in ihr zu wachsen.
Einmal im Jahr suchte er sie ganz bewusst. Weil er sich selbst finden wollte. In Nächten wie dieser.
Während er vor seinem Kamin saß, verging Stunde um Stunde. Und als die Nacht am tiefsten war, da schreckte er kurz auf. Das Grollen des Gewitters kam bedrohlich nahe. Aber das war es nicht, was ihn aus seinen Gedanken gerissen hatte, es war etwas anderes. Er hatte es gesehen. Nur ganz kurz. Ein helles Licht. Ein Aufflackern draußen in der Dunkelheit.
Er schaute aus dem Fenster. Schaute hinaus in das Dunkel der Wälder. Da war etwas, ganz sicher. Es bewegte sich. Ein Tier? Wahrscheinlich. Ruhig bleiben. In solch nächtlichen Stunden konnte die Natur dem Geist Streiche spielen. Aber nein.
Das war kein Tier. Sicher nicht. Er hatte es genau gesehen, einen Lichtkegel im Wald. Das war kein Blitz, das war nichts Natürliches. Der Alte zog sich die Schuhe wieder an und öffnete
die Tür. Sofort umwehte ihn der eiskalte Nordwind. Der peitschende Regen durchnässte ihn innerhalb weniger Sekunden erneut.
Es störte ihn nicht. Zu gebannt war er. Zu sehr wollte er wissen, was da draußen war. Er ging ein paar Schritte über den feuchten Boden, da sah er es wieder. Einen Lichtkegel, der suchend durch den dichten Wald zuckte.
»Hey«, brüllte er dem Sturm entgegen. »Wer ist da?«
Stille. Donnergrollen.
»Wer ist da?«, wiederholte der gebeugte, stolze Mann und ging tiefer und tiefer in den Wald hinein. »Hallo?«, rief er. »Hallo?« Vorsichtig tastete er sich voran. Vorbei an Föhren und Birken, schritt weiter und weiter voran, stapfte über den aufgeweichten Erdboden.
Plötzlich traf ihn der Lichtkegel einer Taschenlampe. Er kniff die Augen zusammen.
»Mach das aus«, sagte er.
Der Fremde schaltete das Licht ab. Der Alte brauchte ein paar Sekunden, um sich wieder an die Dunkelheit zu gewöhnen.
»Wer bist du?«, fragte er den Fremden, von dem er nur die Umrisse wahrnahm.
»Ich bin niemand.«
»Und wieso bist du hier draußen, Niemand?«
»Weil ich nicht weiß, wo ich sonst sein soll.«
Der Alte schwieg ein paar Sekunden. Die Stimme des Fremden klang merkwürdig vertraut, nur konnte er sie nicht zuordnen.
»Komm mit mir, Niemand«, sagte er schließlich. »Ich habe hier eine Hytte. Du holst dir doch den Tod bei diesem Wetter.«
Der Fremde zögerte einen Moment. Offenbar fiel es ihm schwer, Vertrauen zu fassen.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, bekräftigte der Alte. »Komm schon, was hast du denn zu verlieren? Du willst doch nicht wirklich hierbleiben.«
Ein Blitzschlag erleuchtete den Wald. Das schwere Donnergrollen verschluckte die Antwort des Fremden.
Er atmete einmal tief durch. Dann stand er vorsichtig auf, richtete den Strahl der Taschenlampe auf sein Gepäck, griff nach dem Paddel, das am Boden lag, und dem gelben Seesack. Den wollte er sich über die Schulter wuchten, doch es gelang ihm nicht. Er schaffte es nicht, ihn hochzuheben, auch beim zweiten Versuch nicht. Merkwürdig, dachte der Alte. Es sieht so aus, als reise der Fremde mit Gepäck, das zu schwer für ihn ist. Er griff nach dem Seesack und packte mit an. Durch strömenden Regen kämpften sie sich bis zu der kleinen Hytte durch. Der feuchte Erdboden gab unter ihren Schritten nach, und sie mussten aufpassen, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Als der Alte schließlich die Tür öffnete und in die Stube trat, schlug ihnen eine Wärme entgegen, die sie sofort einzuhüllen schien. Der Alte reichte dem Fremden ein Handtuch.
»Hier, Niemand, setz dich ans Feuer, das wird dich wärmen.«
Erst jetzt sah er, wen er da vor sich hatte.
Der Fremde war noch jung. Fünfzehn, vielleicht sechzehn Jahre alt. Ein Junge noch. Ein Junge aber, der früh gealtert war. Er schien einiges hinter sich zu haben, denn er hatte eine große Narbe im Gesicht.
»Was hast du da gemacht?«, fragte der Alte.
»Nichts«, sagte der junge Reisende und drehte sein Gesicht weg.
Der Alte spürte, dass er nicht weiter fragen sollte. Nicht jetzt. Nicht hier.
Er ging zur Kochplatte und setzte einen Tee auf. Aber er konnte den Blick kaum von dem Jungen wenden. Er kam ihm so bekannt vor, so seltsam vertraut! Doch sosehr er auch versuchte, sich zu erinnern, er kam nicht drauf, woher er ihn kannte.
»Wo kommst du her, Niemand?«
»Von nirgendwo.«
»Kenne ich. Da komme ich auch her.« Der Alte dachte an seine Vergangenheit. Er dachte an die Schlachten, die er geschlagen, die Dinge, die er gesehen und erlebt hatte, die Narben, die ihm selbst geblieben waren. Seit 94 Jahren wandelte er nun schon auf dieser Erde. Er hatte viel gesehen. Für einen kurzen Moment dachte er an seine schwersten Stunden. Aber er vertrieb den Gedanken gleich wieder und brachte dem Jungen eine Tasse mit Kräutertee.
»Trink«, sagte er. »Das wird dir guttun.«
Der Junge zitterte, als er die Tasse entgegennahm. Er schaffte es nicht, ihm in die Augen zu schauen.
Der Alte setzte sich schweigend neben ihn.
Minuten vergingen.
Das Feuer knisterte. Der Alte beobachtete das Spiel der Flammen und verlor sich erneut in Gedanken.
Draußen hörte man ein lautes Krachen. Wahrscheinlich war irgendwo ein Blitz eingeschlagen. Immer heftiger prasselte der Regen auf das Holzdach.
»Danke«, sagte der Junge schließlich. »Danke, dass Sie mich hier aufnehmen.«
Der Alte nickte. »Du kannst bleiben, so lange du bleiben willst.«
Der junge Reisende setzte an, etwas zu sagen, brach aber ab. Was er wohl auf dem Herzen hatte? Was ihn wohl bedrückte? Wie mag seine Geschichte sein?, fragte sich der Alte und wunderte sich über sich selbst. Warum interessierte ihn das so? Was hatte dieser Junge so Außergewöhnliches, so Vertrautes an sich, dass er unbedingt mehr erfahren wollte?
Er fand keine Antwort. Darum beschloss er, die richtigen Fragen zu stellen.
»Nun gut, Niemand aus Nirgendwo«, sagte er und lehnte sich auf dem alten Holzstuhl zurück. »Du möchtest mir nicht erzählen, wer du bist, und du möchtest mir nicht erzählen, wo du herkommst. Dann erzähl mir doch zumindest ein wenig von deiner Reise.«
Der Junge zögerte einen Augenblick. »Ich heiße Sverir«, sagte er. »Aber ich wüsste nicht, wo ich anfangen sollte. Ich habe schon zu viel gesehen.«
Der Alte lächelte milde. Auch dieser Satz kam ihm mehr als vertraut vor. Genau diesen Satz hatte er selbst schon ausgesprochen.
»Ich bin Hakon« sagte er. »Vielleicht verstehe ich nicht viel von der Welt, aber von den Reisen, die ein Mensch auf sich nimmt, verstehe ich viel. Wieso fängst du nicht einfach beim Anfang an? Ich würde deine Geschichte sehr gern hören, Sverir.«
Der Junge trank noch einen Schluck Tee und schaute gedankenverloren in die Flammen. Draußen war tiefste Nacht.
»Also gut«, sagte er. Und begann zu erzählen.